Die Leute.

Novellette von Teo von Torn.
in: „Der deutsche Correspondent” vom 03.11.1901


Fast auf den Tag waren es zwei Jahre, daß Sighild von Markwede das mütterliche Haus verlassen hatte.

Ein herber Frühling wie damals. In demselben kleinen Vorgärtchen, dessen Thür immer noch so scharf und federnd ins Schloß fiel, lag das dürre, braune Laub vom verflossenen Jahr; aber weiße und blaue Crocus, welche hie und da anfragten, und die grün getupfte Hecke am Gitter ließen erkennen, daß es seine Richtigkeit hatte mit dem Frühling.

Während die Aufwärterin — ein neues Gesicht, das Sighild nicht kannte — mit verdrossener Neugier an ihr vorbeischlurrte, um dem Kutscher die beiden Koffer abzunehmen, legte Sighild die mit grauem dänischen Leder bekleideten Hände um je eine der rostigen Eisenspitzen des Gitters und schaute einen Moment nachdenklich in das Gärtchen. Dann schauten die großen, meertiefen Augen Sighilds von Markwede zu dem wie eine Loggia eingebauten Balkon auf.

Um die geschlossenen Lippen des jungen Weibes zuckte es herb, fast verächtlich. Daß man nicht einmal den Wein beschnitten hatte dort oben, das erschien ihr so unfreundlich, gleichgiltig und nachlässig, so sehr ein Nachklang von früher und ein trostloser Vorgeschmack ihrer nächsten Zukunft, daß etwas wie Feindseligkeit über sie kam. Und seltsam — das erst gab ihr das rechte Heimathgefühl.

Mit dieser stillen, passiven Feindseligkeit hatte sie jahrelang dort oben gesessen und sich fortgesehnt, hatte den kleinen Garten gepflegt und das kleinbürgerliche Volk verachtet, welches hinter den Gardinen und Stores der gegenüberliegenden Fenster ihr Thun und Treiben beobachtet — alle Tage, die Gott werden ließ. Das würde nun wieder so sein. Alles Andere auch.

Und sie wappnete sich. Langsam stieg sie die drei Steinfliesen zu der seitlich neben dem Vorgarten belegenen Hausthür empor; dann über den engen Flur, an dem altmodischen Thürschilde des Kanzleirathes Ohnesorg vorbei, die knarrende Stiege in den ersten Stock hinauf.

Das Entree stand offen. Frau Marie von Markwede disponirte mit einer geflissentlich geräuschvollen Geschäftigkeit über die vorläufige Unterbringung der Koffer ihrer Tochter.

„Den großen bringen Sie nur gleich nach oben, Frau Meinecke. Die Reisetasche kann vorläufig in mein Schlafzimmer, falls die Frau Gräfin ihres Necessaires benöthigt. Ach, da bist du ja auch, mein Kind!”

Mit einem kaum hörbaren, heiser klingenden „Guten Tag, Mama —” drängte Sighild an ihrem Gepäck vorbei ins Zimmer. Dort stand sie ein paar Sekunden regungslos, in ihrem grauseidenen Reisemantel, dessen Pelerine weit über ihre schlaff herab­hängenden Hände fiel. Mit einem einzigen Blicke umfaßte sie die alte aufgeputzte Dürftigkeit um sie her — alles, wie es gewesen war, nur noch kleiner, enger als früher. Und diese Enge legte sich ihr plötzlich beklemmend um's Herz.

Mit einer raschen Bewegung entledigte sie sich ihres Mantels, trat in das Balkonzimmer und stieß ein Fenster auf. Ein bischen mehr Licht und die spärlichen Geräusche der entlegenen Vorstadtstraße drangen in den mit billigen Portieren überladenen Salon. Drüben saß Frau Direktor Zinkendorf auf ihrem Auslug hinter den buntblühenden Fuchsien. Die drei Peltzers, diese entsetzliche Frau mit ihren schmähsüchtigen, verwachsenen Töchtern, lagen im offenen Fenster, steckten die Köpfe zusammen und starrten aus großen Frageaugen ungenirt herüber.

Sighild war zu Hause. —

Draußen fiel die Entreethür in's Schloß. Gleich darauf trat Frau von Markwede ein. Sie brauchte sich nun nicht mehr zu beherrschen. Mit ein paar raschen, großen Schritten eilte sie zum Fenster, um es zu schließen. Und dann sagte sie stoßweise, wie unter einer besonderen Anstrengung:

„Willst du die Schmach auf die Gasse schreien, oder was sonst — daß du das Fenster öffnest? Auch war es nicht nothwendig, daß du dich da unten aufstelltest, damit die Leute dich ja recht besehen konnten!”

„Die Leute — —”

Sighild hatte vor dem Spiegel ihren Hut abgenommen und ordnete mit den schlanken, ringlosen Fingern ihre Stirnhaare. In den zwei Worten, die sie hervor­gestoßen, fast ohne die Lippen zu öfnen, lag eine so unendliche Verachtung, daß Frau Marie nun vollends die Haltung verlor. Ihre Nasenflügel bebten, und an der Stirn und auf den Wangen zeichneten sich rothe Flecken.

„Das sind die Leute,” stieß sie fauchend hervor, „welche meinen Gesellschaftskreis bilden und deren Anschauungen du dich wirst fügen müssen, wenn deine That nicht eine jener Ueberspanntheiten ist — —”

Unter dem seltsamen Blicke ihres Kindes vollendete sie nicht. Die Hände lässig in den Schooß gelegt, folgte Sighild mit den mächtigen Augen den hastigen Bewegungen der Mutter, welche im Vorbeigehen das Telegramm vom Tisch gerissen und sich nun auf dem Sopha ihr gegenüber zurechtgesetzt hatte.

„So erkläre mir also — was soll das?” rief Frau von Markwede, indem sie krampfhaft mit beiden Händen das Formular glättete.

„Das soll heißen, daß ich nicht mehr kann, Mama, und nicht mehr will.” Sie sagte das völlig leidenschaftslos, als wären alle Argumente damit erschöpft.

„Aber man heirathet doch nicht, um davonzugehen, wenn es Einem so gefällt!”

„Ich war noch nicht achtzehn Jahre, Mama, als du mir erklärtest, daß der Graf Charles Grode eine unerhört glänzende Partie für mich sei. Und dabei bliebst du, obwohl ich noch am letzten Tage deine Kniee umklammerte und zu dir schrie, daß ich den Mann nicht liebe, daß du mich bei dir behalten möchtest. Du meintest, ich wäre wohl nicht klug — und was die Leute sagen sollten — —”

„So! Damit kommst du mir jetzt! Hast du damals, als ich dich zum ersten Male auf Olessen besuchte, mir nicht selbst erklärt, daß du dich wohl befändest als reichste Frau der Provinz!?”

„Das war zwei Monate nach unserer Hochzeit — zu einer Zeit also, da selbst ein Charles Grode sich noch nicht in allen seinen Qualitäten zu entwickeln vermocht. Damals war ich noch nicht Mutter und hatte außer meinem Entsetzen keinen Maßstab dafür, wie dieser Mann mich behandelte.”

„Aber weshalb wandtest du dich nicht an mich oder an Herbert?” rief Frau von Markwede, indem sie die gerungenen Hände weit von sich auf den Tisch streckte.

„An dich — —”

Sighild erhob sich schwerfällig und trat, die Hände auf dem Rücken, für einen Moment an die Balkonthür. Dann wandte sie sich um.

„An dich nicht — weil ich kein Vertrauen zu dir hatte, Mama.”

„Aber was soll nun werden? Was —! Das Wenige reicht doch kaum für mich; — — Du weißt es ja, wie elend wir haben leben müssen! Und jetzt noch das Kind!”

„Daß ich dir mit dem Kinde nicht würde kommen dürfen, habe ich mir selbst gesagt. Ich habe es unterwegs bei Margot abgegeben. Sie wird es gern behalten, solange man mir das Kind überhaupt noch läßt.”

„Du warst in Mustin —,” rief Frau von Markwede, indem sie sich aufrichtete.

„Nur drei Stunden.”

„Und Herbert — was sagte er zu Deinem Schritt?”

„Ich habe ihn nur oberflächlich informiren können,” erwiderte Sighild, indem sie an einigen Nippes und Moraständern auf dem Klavier ordnete, „aber er billigte ihn. Meine Schwester Margot dagegen ist deiner Ansicht.”

„Also meinst du, daß Herbert dich aufnehmen würde, wenigstens bis das Aergste vorüber ist?”

„Ohne Frage — er hat es mir angeboten, aber — — —”

„Nun, Gott sei Dank!” rief Frau von Markwede aufathmend. „Dann sind wir vorläufig wenigstens das Gerede der Leute los.”

Sighild hatte die Hände gefaltet und näherte sich der Mutter.

„Behalte mich bei dir, Mutter! Ich bitte dich so innig ich kann! Wir theilen das Wenige, und ich will arbeiten! Ich kniee und flehe dich an: schicke mich nicht nach Mustin! Nicht dorthin! Nicht, Mutter — thu's nicht!”

Frau Marie wandte sich achselzuckend ab. Während Sighild die letzten Worte immer und immer wieder vor sich hinschluchzte, zog ihre Mutte geschäftig die Vorhänge zu und zündete die Lampe an.

„Solch eine Verdrehtheit!” schalt sie dabei empört vor sich hin. „Nicht ein bischen Gêne — und als ob die Leute gar nicht auf der Welt wären! — —”

*           *           *

Seit etwa fünf Wochen war Sighild in Mustin. Ihr Schwager, der Domänenpächter Herbert Lenz, hatte sich der heiklen Angelegenheit mit so viel Eifer und Delikatesse angenommen, daß eine baldige Erledigung des Scheidungs-Prozesses zu erwarten war.

Auch sonst hatte man sich beruhigt. Nur Frau Margot Lenz schien sich noch nicht recht zufrieden geben zu können. Sie hätte eine solche „wilde Sache”, wie sie es nannte, niemals fertig gebracht — eher hätte sie sich prügeln lassen. Aber Sighild war schon immer komisch gewesen. —

Sie sah sich noch auf ihrer, Margots, Verlobungsfeier — die dunklen Augen kindlich verständnißlos, aber doch mit unverkennbar feindseligem Ausdruck auf sie und Herbert gerichtet. Durch nichts war sie zu bewegen gewesen, ihnen ihre Glückwünsche darzubringen. Und als Herbert sie lachend ergriff, um ihr einen schwägerlichen Kuß auf den schmerzhaft verzogenen Mund zu drücken, hatte sie gellend aufgeschrien und ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt. Man hatte zwar gelacht, aber es war doch recht peinlich gewesen.

Ebenso eigensinnig war sie jetzt nicht zu bewegen, sich mit ihrem Kinde zu befassen. Sie liebte es zärtlich, das merkte man an der Art, wie sie es mit den Augen liebkoste, wenn man das kleine, strampelnde Ding in ihre Nähe brachte. Aber sie ging dem Kinde aus dem Wege, — gerade als ob sie sich seiner entwöhnen wollte.

Margot dagegen hing an dem Kinde mit der Zärtlichkeit aller Frauen, denen das Glück der Mutterschaft versagt geblieben ist. Eben kugelte sie sich mit ihm auf den Grasflächen vor dem Hause herum, als Herbert Lenz aus der Thür trat.

Er trug die Lodenmütze unter dem Arm, so daß die weiße Stirn zwischen dem kurz geschorenen, blonden Haar und den starken Brauen sich hell von dem kräftigen, gebräunten übrigen Gesichte abhob.

„Wo ist Sigi?” fragte er. „Wichtige gute Nachrichten!”

„Was ihr so nennt —” maulte Frau Margot vor sich hin, indem sie die seidigen Löckchen der Kleinen durch die Finger zog. Laut aber sagte sie: „An der bunten Buche, glaube ich. Sage ihr übrigens auch, sie möchte zu Tische kommen.”

Herbert Lenz schritt um das Haus herum in den Park. Als er das große Gatter der Fasanerie passirt hatte, bog er in einen Seitenpfad ein, welcher zu einer mit Haselbüschen bestandenen Anhöhe führte. Dort oben ragte die „bunte” Buche auf. Die Sträucher waren im Halbkreis um dieselbe gelichtet, und dicht an dem knorrigen Stamme lehnte eine Bank.

Als die Gestalt des Schwagers auftauchte, schrak Sighild zusammen. Während eine fliegende Röthe ihre Stirn bedeckte, erhob sie sich jäh.

„Heil dir, Sigi!” rief Lenz, indem er Papiere, die er aus der Tasche gezogen, über seinem Haupte schwenkte. „Frohe Botschaft weiß ich dir zu künden! — Aber erst, wenn Du ein vergnügtes Gesicht machst, kleine Frau!” fügte er, aus dem fidelen Pathos fallend, hinzu.

„Ich bin schon vergnügt,Herbert,” sagte Sighild mit einem Lächeln, das sich, wenn man nur das Spiel der Mundwinkel sah, fast schmerzhaft ausnahm; aus dem tiefen Dunkel ihrer Augen aber hatte es sonnig aufgeleuchtet. „Also, was hast du Neues?”

„Erstens mal,” sagte er heiter, „ist man nun bereit, den Prozeß in den von uns vorgeschlagenen Formen zu führen. Das bedeutet eine Beschleunigung um mindestens zwei Monate. Noch vor den Gerichtsferien bist du frei!” rief er, nun wieder ganz bei der Sache. „Eine gute Nachricht, was?”

Sighild nickte tief aufathmend.

Jetzt hielt er ihr ein anderes Papier hin.

„Und hier — was sagst du dazu?!”

Sighild warf einen Blick auf den kurzen, mit der Maschine geschriebenen Brief einer Redaktion. Dann griff sie mit beiden Händen danach. Jeder Zug in ihrem sonst so stillen, apathischen Gesicht war Nerv — und im nächsten Augenblick flog sie mit einem jauchzenden Aufschrei in Herberts Arme.

„Angenommen, du — angenommen! Das ist die Befreiung!” stammelte sie zwischen Weinen und Lachen.

„Na also, Kleine!” rief Herbert fröhlich, indem er ihre biegsame Gestalt umfaßte und sie übermütig herumschwenkte. „Kriege ich nun einen Kuß oder auch wieder eine Tachtel, wie damals?”

Damit drückte er seinen Mund auf ihre Lippen — schnell, schon bald im Davonstreben, um der rächenden Hand auszuweichen, wenn er sie losließe.

Aber nichts dergleichen. Ihre Knie wankten, und sie wurde schwer in seinen Armen. Die Freude, das neuerwachte Hoffen gab wie mit einem Zauberschlage alles aus, was Sighild seit Jahren an herbverschlossener Leidenschaft für ihren Schwager empfunden hatte. Selbstvergessen sah sie aus halbgeschlossenen Augen zu ihm auf und küßte ihn wieder.

Ein knackender Zweig zu ihren Füßen schreckte sie auseinander. Einen Augenblick starrte Sighild, die Fingerspitzen fest an die Schläfen gedrückt, vor sich nieder. Ein Sammeln — ein Nachdenken und ein Entschluß. Dann ordnete sie mit ein, zwei Griffen ihr Haar und schritt an ihm vorüber.

„Du sollst auch zu Tisch kommen, Sigi,” rief er ihr etwas kleinlaut nach.

*           *           *

Sighild kam nicht. Sie hielt sich eingeschlossen, bis zur Nacht. Dann verließ sie heimlich das Haus.

*           *           *

Die Leute aber zuckten die Achseln und meinten, daß die Gräfin Grode-Olessen eine abenteuerliche Person sein müsse. Ihrem Mann sei sie durchgegangen — und nun gar aus dem Hause ihres Schwagers verschwunden.

In Berlin soll sie sich aufhalten — allein in Berlin — und schriftstellern, sagen die Leute. — —

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